13. Juni 2017

Der Tag wird kommen

Ein Gastartikel von Micha Becker
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„Hey, Opa!“, hörte ich Judith sagen und schreckte unvermittelt auf – ich war beim Lesen wohl kurz im Sessel eingenickt. Als ich aufblickte, sah ich die Kinder vor mir stehen, leicht schmunzelnd und mit ihren vertrauten wissbegierigen Gesichtern.
„Erzähl mal von eurer Hochzeit!“, fuhr Judith fort. Und Paul-Michel sagte: „Ja, die Mama hat uns neulich erzählt, dass du und der Opa Magnus erst voll spät geheiratet haben. Warum eigentlich?“ Ich nahm die Lesebrille ab, schaltete sie aus und legte sie auf den Couchtisch.
„Ach“, sagte ich, „das ist schnell erzählt. Zum Einen haben der Opa Magnus und ich uns erst recht spät kennengelernt. Aber dann war es Liebe auf den ersten Blick. Oder sagen wir mal: auf den zweiten Blick. Und zum Anderen war das damals ja noch gar nicht so lange möglich.“ – „Was war nicht möglich? Das Heiraten?“, fragte Judith. Und bevor ich antworten konnte, sagte Paul-Michel: „Quatsch! Die Leute heiraten doch schon total lange!“
Ich ertappte mich dabei, wieder dieses wohlwissende Lächeln aufzusetzen: „Das stimmt, Paul-Michel, aber du vergisst dabei, dass wir zwei Männer sind. Und dass Männer Männer und Frauen Frauen so wirklich heiraten dürfen, das wurde erst viel später eingeführt.“ Die beiden schauten mich verdutzt an. Und da ich ahnte, dass das jetzt wohl doch etwas länger dauern würde, bat ich sie, sich auf die Couch zu setzen.

  „Wie soll ich euch das jetzt erklären?“, setzte ich an. „Ihr müsst wissen, Homosexualität war in Deutschland ganz lange verboten. Viele dachten früher noch, das sei eine Krankheit, und die, die es gut mit Leuten wie Opa Magnus und mir meinten, die wollten das heilen.“
Paul-Michel zog die Augenbrauen hoch und fragte: „Und die, die es nicht gut meinten?“ – „Die wollten Schwule ins Gefängnis sperren oder sogar töten“, antwortete ich. Die Kinder schauten mich erschrocken an. „Aber keine Angst“, fuhr ich fort, „das haben die Opas alles nicht mehr erleben müssen. Als wir heranwuchsen, wurde das schon nicht mehr bestraft. Aber dass der Paragraf endgültig gestrichen wurde, das dauerte noch – da war ich ungefähr so alt wie du, Judith. Und danach brauchte es eben noch einige Zeit bis sich das – ich sag mal – normalisiert hatte.“ – „Was heißt normalisiert?“, wollte Paul-Michel wissen und Judith sagte schnippisch: „Na, dass das normal wurde, du Ochse!“ – „Na, na, na!“, ermahnte ich und fuhr fort:

„Ich mach es mal an einem Beispiel fest: der Thomas Hitzlsperger war damals der erste Profi-Fußballer, der sich öffentlich dazu bekannte, dass er auf Männer steht. Das war so Anfang 2014, da hatte er seine aktive Karriere schon beendet.“ Judith runzelte irritiert die Stirn und fragte: „Warum? Ich meine, gab es denn damals so wenige Profi-Fußballer?“ Ich musste wieder lachen: „Nein, nein. Die Bundesliga war damals auch so groß wie heute. Und dass das statistisch sehr unwahrscheinlich war, dass von über 800 aktiven Spielern alle heterosexuell waren, das war uns schon damals klar. Aber die Leute trauten sich einfach nicht, das zuzugeben. Das gesellschaftliche Klima war – wie soll ich sagen? – manchmal immer noch sehr vergiftet.
Es gab da zum Beispiel diese Demonstrationen…“ – „Demonstrationen gegen schwule Fußballer?“, unterbrach Paul-Michel mich. „Nein“, erwiderte ich, „nicht gegen schwule Fußballer. Und auch nicht so direkt gegen Schwule. Aber als in Baden-Württemberg der Sexualkundeunterricht reformiert werden sollte, wurde das plötzlich zu einer ganz großen Nummer aufgebauscht. Da waren auf einmal ein paar tausend Menschen in Stuttgart auf der Straße, die ernsthaft dagegen protestierten, dass ihre Kinder jetzt alle zu Lesben und Schwulen umerzogen werden sollten!“
Die Kinder blickten mich mit großen Augen an. Paul-Michel verzog die Mundwinkel zu einem ungläubigen Grinsen und sagte: „Komm jetzt, Opa, du verarschst uns doch!“ – „Aber wenn ich es euch doch sage!“, entgegnete ich und stand auf, um meiner Rage mehr Raum zu geben, während ich weitererzählte: „Als Perverse haben sie uns beschimpft! Als abnorme Wesen! Eine Frau hat uns in einem Fernsehinterview allen Ernstes mit Kälbern verglichen, die mit zwei Köpfen geboren werden! Ganz ekelhafte Zeiten waren das!“ – „Und das ist noch sehr milde ausgedrückt“, ergänzte Judith. „Ja“, sagte ich, seufzte und setzte mich wieder in meinen Sessel, „und dass da viele Leute Angst hatten, sich zu offenbaren, fand ich zwar nicht schön – selbstverständlich nicht – aber es war zumindest nachvollziehbar. Gerade wenn die berufliche Karriere davon abhing, wollte sich dem einfach niemand aussetzen.“

Judith brach als Erste das beklommene Schweigen, das daraufhin einige lange Sekunden eingetreten war: „Und wie kam es dazu, dass der Opa und du dann doch geheiratet haben?“ Ich stand auf, ging zum Wohnzimmerschrank und nahm das Fotoalbum heraus. Ich zeigte ihnen Bilder von Magnus und mir, wie wir im Sommer im Park miteinander turtelten. „Wir haben uns über gemeinsame Freunde kennengelernt“, erzählte ich, „da waren wir schon beide in den Dreißigern. Und ungefähr zur selben Zeit gab es dann diese Abstimmung in Irland, bei der circa Zweidrittel für die Öffnung der Ehe votierten.“ – „Ganz anders als in Deutschland“, sagte Paul-Michel, woraufhin ich ein wenig zu beschwichtigen versuchte: „Na ja, ganz so schlimm, wie ich es eben dargestellt habe, war es hier ja auch nicht.
Die Leute, die damals gegen uns waren, waren zwar sehr laut, aber bei Weitem nicht die Mehrheit der Bevölkerung. Ganz im Gegenteil: die meisten Menschen gönnten uns schon unser Glück. Sogar unter den Wählerinnen und Wählern der christlichen Parteien waren Dreiviertel für die Eheöffnung. Und durch die Abstimmung in Irland kam dann auch in Deutschland wieder einiges in Bewegung.“ Paul-Michel blickte vom Album auf und erwiderte: „Aber die haben dann doch nicht einfach so die Ehe für euch freigegeben? Das kann ich jetzt nicht wirklich glauben.“ – „Das dauerte auch noch ein wenig“, sagte ich, „und auch diesmal ließen mich die Argumente der Gegenseite wieder reichlich am gesunden Menschenverstand zweifeln.“ Judith fragte mich, ob es schon wieder Vergleiche mit zweiköpfigen Kälbern gab. „Das nicht. Aber die Ministerpräsidentin des Saarlandes gab beispielsweise zu bedenken, wenn wir die Ehe nun auch für Lesben und Schwule öffnen würden, dass wir sie dann auch für Geschwister oder mehr als zwei Personen öffnen müssten. Andere hatten Angst, dass der Papa irgendwie einen Knacks kriegen könnte, wenn wir ihn adoptieren, und so weiter und so fort.“ – „Und wie ging es dann weiter?“, wollte Paul-Michel wissen.

Ich blätterte ein paar Seiten weiter und zeigte auf das Foto, auf dem ich vor Magnus kniete. „Das war ungefähr ein Jahr nach der Öffnung der Ehe“, sagte ich, „da sind die Opas zur Hohen Acht gefahren, ich hab mir ein Herz gefasst und um seine Hand angehalten.“ – „Und er hat Ja gesagt!“, jubelte Judith. „Genau“, sagte ich, „und ein Jahr darauf haben wir Hochzeit gefeiert, ein ganzes Wochenende lang mit all unseren Lieben. Alle im feinen Zwirn, mit einer Band und Buffet, haben viel zu viel Wein getrunken und so sehr getanzt, dass uns noch tagelang die Füße schmerzten. Zwei Jahre später haben wir dann den Papa zu uns geholt und im Jahr darauf die Tante Simone.
Und den Rest kennt ihr ja.“ – „Krass, Opa“, sagte Paul-Michel, „was für eine Geschichte!“ Judith lächelte zustimmend und ich freute mich, dass sie ihnen gefallen hatte.
„So“, sagte ich, „jetzt aber raus mit euch! Das Wetter ist viel zu schön, um die Zeit im Wohnzimmer zu verbringen, und die Opas wollen jetzt auch ihre Fünf-Uhr-Tüte zu sich nehmen.“

Als die Kinder vor der Tür spielten, ging ich in die Küche und bereitete den Tee und alles Weitere zu, um es Magnus in den Garten zu bringen. Der lag schlafend in der Hängematte neben dem Rosenbusch und ich stellte das Tablett neben ihn auf den Tisch. Als ich ihn küsste, schlug er die Augen auf und fragte: „Was gibt’s?“ Ich erzählte ihm, dass Judith und Paul-Michel wissen wollten, wie wir geheiratet hatten. „Und was hast du ihnen erzählt?“, wollte er wissen. Ich antwortete: „Ich habe ihnen erzählt, dass ich einmal einen schönen Prinzen traf, der damals noch mehr Haare auf dem Kopf als in den Ohren hatte. Und dass Liebe alle Grenzen überwindet.“ Er zog mich zu sich in die Hängematte und wir dösten in die Abendsonne hinein.

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Am 25.06. demonstrieren sie wieder gegen eine freie, offene und tolerante Gesellschaft.
Wir lassen dies nicht zu und kämpfen weiter, denn „Der Tag wird kommen“ ist keine absurde Utopie, sondern unser Bild von der Gesellschaft.
Am 25.06. also ab 12 Uhr am HBF Wiesbaden für eine freie Gesellschaft demonstrieren!

Der Tag wird kommen

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